„Hier spüre ich das Leben“

Tobias Gessler bringt mit seinen Mountainbike-Touren sanften Tourismus nach Albanien. Im Interview spricht der Schweizer über die albanische Mentalität, kaputte Gangschaltungen und die Wichtigkeit von Familie.

2018_AN_Tirana-2279     Tobias Gessler ist sich sicher, dass der Tourismus weiter zunehmen wird.  Foto: Alina Neumann

 

Original-Artikel abrufbar hier:  http://postcardsfromalbania.com/2018/06/10/hier-spuere-ich-das-leben/

Der Tourismus in Albanien erlebt einen enormen Aufschwung. Vier Millionen Touristen ließen in den vergangenen Jahren 1,5 Milliarden Euro im Land. Doch fernab von ein paar wenigen Küstenabschnitten im Süden des Landes ist der Großteil Albaniens touristisch noch immer unerschlossen. Der 37-jährige Tobias Gessler ist der erste, der mehrtägige Mountainbike-Touren durch das albanische Hinterland anbietet. Im Kanton Zürich aufgewachsen, studierte er Entwicklungszusammenarbeit, bevor er nach Tirana kam und hier sein Unternehmen Ride Albania Mountain Biking aufbaute.

Ein Café am Stausee des Großen Parks von Tirana bietet die richtige Kulisse für unser Gespräch über sanften Tourismus. Pünktlich um 10.00 Uhr kommt er angeradelt.

Postcards from Albania: Sie kommen ursprünglich aus der Schweiz. Was hat Sie nach Albanien verschlagen?

Tobias Gessler: Das erste Mal bin ich vor etwa sieben Jahren als Tourist hierher gekommen. Ich wollte etwas erleben, dafür aber nicht ans andere Ende der Welt fliegen. Da ist mir Albanien eingefallen: Ein Land mit einer verrückten Geschichte, in dem viele Dinge anders sind, aber doch sind wir als Europäer irgendwie miteinander verbunden. Damals habe ich mich in das Land und die Leute verliebt. Diese Gastfreundschaft, die ursprüngliche Natur, die man erlebt, wenn man in die Dörfer rausgeht, das ist etwas ganz Besonderes. Als ich 2013 wieder zurück nach Albanien gekommen bin, habe ich anfangs als Entwicklungshelfer gearbeitet. Diese Arbeit hat mich aber schnell frustriert: Den ganzen Tag im Büro mit dreistündigen Sitzungen und 50-seitigen Konzeptpapieren zu verbringen, passt wenig zu meiner Natur. Aus diesem Grund habe ich mich vor drei Jahren dazu entschlossen, mir etwas Eigenes aufzubauen. Daraus ist Ride Albania Mountain Biking entstanden.

Wie ist Ihre Einstellung zum Tourismus in Albanien?

Ich habe ein sehr gespaltenes Verhältnis zum Tourismus, weil ich finde, dass Tourismus sehr schnell sehr hässlich werden kann. Ich hasse Massentourismus und wenn zu viele Leute an einem Ort sind. Hier in Albanien entwickelt sich der Tourismus gerade rasant, vor allem am Meer und in den Bergdörfern Theth und Valbona. Unter dieser Art von Tourismus leiden die Natur, die Kultur und die Traditionen des Landes extrem. Wenn man auch am albanischen Strand Bratwurst mit Röstkartoffeln essen kann, ist meiner Meinung nach alles schiefgelaufen.

Was macht Ride Albania anders?

Ich versuche immer noch Entwicklungsarbeit zu leisten und etwas zur Verbesserung der schwierigen Umstände im Land beizutragen. Mit meinen Gästen bewege ich mich von den großen Touristenorten weg und zeige ihnen Orte, die sonst nur sehr wenige besuchen. Wenn wir in die Berge fahren, dort bei albanischen Familien essen, schlafen und unser Geld rausbringen, ist das Entwicklungshilfe – ganz direkt und auf Augenhöhe.

Nehmen albanische Familien diese Art von Unterstützung gerne an?

Anfangs ist es schon schwierig mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Diese Familien bieten eigentlich die besten Voraussetzungen für Gasthäuser und sanften Tourismus: Gastfreundschaft, tolles Essen aus dem eigenen Garten, das haben sie im Blut. Im Gegensatz dazu ist kapitalistisches Denken ein anderer Planet für sie. Bevor ich überhaupt mit Familien verhandeln kann, wollen sie dreimal mit mir einen Kaffee trinken, alles über mich und meine Familie erfahren. Erst dann kann ich langsam damit beginnen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Das ist in Westeuropa komplett anders, da ist man sehr nüchtern und will direkt zum Punkt kommen.

War es schwierig für Sie, sich auf die kulturellen Unterschiede zwischen Albanien und der Schweiz einzustellen?

Ja, vor allem als ich drei junge Albaner als Mitarbeiter aufgenommen habe, musste ich sehr viele Nerven investieren. Hier muss man die Leute von null anlernen, das betrifft die Ausbildung ebenso wie grundlegende Arbeitsvorstellungen. Ein Beispiel, das es auf den Punkt bringt: Wenn bei einem unserer Fahrräder die Gangschaltung nicht funktioniert, gehe ich zum Fahrradmechaniker und frage ihn, ob er sich das anschauen kann. Nachdem er das gemacht hat, sind aber immer noch ein oder zwei Gänge nicht gut eingestellt und er sagt: „Das ist schon okay so“. Wir Schweizer sind verrückt nach Details, jeder verdammte Gang muss korrekt sein. Die albanische Kultur funktioniert anders, die Leute sind entspannter.

Wie lässt sich die immer noch große Armut im Land mit dem Tourismus vereinbaren?

Mancherorts besteht die Hoffnung, durch Tourismus würde in Albanien ein neues, besseres Leben beginnen. Natürlich, die Armut und die Arbeitslosigkeit kann durch sanften Tourismus vor allem in den ländlichen Regionen aufgefangen werden – aber nur punktuell. Ein großes Risiko ist immer noch die Abwanderung aus den Dörfern. Schon jetzt gibt es viele tote Dörfer in Albanien, vor allem in den Bergen. Wir arbeiten zum Beispiel mit einem Gasthaus zusammen und ich hatte eigentlich das Gefühl, diese Familie bewegt sich in die richtige Richtung. Als ich letzte Woche wieder dort war, haben mir die Söhne erzählt, sie wollen sich ein Visum organisieren, der eine für England, der andere für Belgien. Viele Albaner sind – auch nach der großen Auswanderungswelle im Jahr 1991 – mit der Hälfte des Kopfes woanders und wollen einfach nur weg.

Vor welchen anderen Herausforderungen steht der Tourismus in Albanien?

Das größte Problem ist das grundsätzliche Verhältnis zwischen den Bürgern und dem Staat. Es ist ein Verhältnis des Misstrauens. Präzise gesagt heißt das, dass sich zum Beispiel jedes Geschäft registrieren lassen und Steuern bezahlen müsste. Die Bergfamilien, mit denen ich zusammenarbeite, sind aber alle nicht registriert und wollen das auch auf keinen Fall, weil sie dann ca. 600 Euro Steuern pro Jahr bezahlen müssten. Diese Summe müssten sie von Anfang an abgeben, auch wenn sie noch keine Gäste haben. Das macht ihnen Angst und so tricksen sie den Staat mit allen Mitteln aus. Auf der anderen Seite wäre es besser, der Staat würde solche Betriebe ganz sanft besteuern und zum Beispiel nur 100 statt 600 Euro verlangen. So könnte man beginnen, aber die gesetzlichen Grundlagen fehlen hier. Das ist eine große Herausforderung.

Glauben Sie, dass der Staat in Zukunft auch kleinere Betriebe fördern wird?

Der Staat macht, was die europäische und amerikanische Peitsche verlangt. Im Moment werden alle Beamten im Rahmen der Justizreform und Korruptionsbekämpfung darauf geprüft, wie viele teure Autos und Villen am Meer sie besitzen, im Vergleich zu ihrem bescheidenen offiziellen Verdienst. Ich hoffe, dass es am Ende dieses Prozesses mehr saubere Personen in der Politik und der Verwaltung gibt, die nicht nur für sich selbst, sondern für das Gemeinwohl arbeiten. Dann bin ich auch positiv gestimmt, dass die richtigen Rahmenbedingungen für sanften und ländlichen Tourismus geschaffen werden können. Derzeit fokussieren sich die Politiker hauptsächlich auf Tirana, fast die Hälfte der albanischen Bevölkerung lebt in der Hauptstadt. Hier erhalten sie auch Aufmerksamkeit durch Medien und Bevölkerung, denn in den Dörfern da draußen kommt, wenn sie Pech haben, nicht einmal eine Kamera hin. Ich weiß zum Beispiel auch aus der Schweiz, dass ein großer Teil unseres Erfolges darin besteht, dass nicht alles nur in Bern oder Zürich stattfindet, sondern auch die ländlichen Regionen ihren eigenen Weg gefunden haben. Das müsste hier auch passieren.

Derzeit buchen hauptsächlich Schweizer und Deutsche, vereinzelt auch Italiener und Holländer Ihre Mountainbike-Touren. Warum keine Albaner?

Im Moment würden Albaner einfach nicht dafür bezahlen, um auf einem Fahrrad schwitzen zu dürfen und sich schmutzig zu machen. Ich glaube, sie befinden sich jetzt in einem Entwicklungsschritt, in dem es ganz wichtig ist, nicht mehr hart arbeiten zu müssen und dem Wetter ausgesetzt zu sein. Denn im Kommunismus musste die albanische Bevölkerung den ganzen Tag lang auf den Feldern schuften. Ich bin mir aber auch sicher, dass sie in zwanzig oder dreißig Jahren wieder aus den klimatisierten Büros und Autos herauskommen wollen und sogar Geld dafür bezahlen werden. Derzeit suchen die Einheimischen vor allem Erholung und es besteht eine starke Außenorientierung. Sie möchten nach Paris, nach Barcelona oder nach Dubai reisen, weil sie das zuvor aufgrund ihrer Geschichte nie machen konnten.

Von außen ist Albanien oft durch negative Klischees – wie Korruption, Blutrache oder Gewalt – geprägt. Wie nehmen Sie das bei Ihren Gästen wahr?

Wenn meine Besucher ihren Freunden zu Hause erzählen, dass sie nach Albanien reisen, bekommen sie oft sarkastische Antworten. Etwa: „Was, Albanien? Gib mir deinen Fernseher, bevor du gehst, falls du nicht mehr zurückkommst.“ Ich spreche mit meinen Gästen bewusst über diese Klischees und wenn sie mit vielen positiven Eindrücken und Erinnerungen nach Hause fahren, sind sie hervorragende Botschafter für Albanien. Das trägt auch viel zur Verbesserung des westeuropäischen Bildes von Albanien bei.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Wie soll sich Ihr Unternehmen weiterentwickeln?

Ab nächstem Jahr möchte ich neben den Mountainbike-Touren einen Fokus auf Kulturtourismus legen. Viele Gäste zeigen starkes Interesse an der Geschichte Albaniens. Es gibt sehr eindrückliche Orte, auch außerhalb der Städte, die ich meinen Gästen gerne zeigen möchte. In der Mitte Albaniens befindet sich zum Beispiel ein ehemaliges Gefängnis – es heißt Spaç – aus der der Zeit des Kommunismus, wo politische Gefangene in Minen arbeiten mussten. Heute ist das Gefängnis am Zerfallen, obwohl es so viel Geschichte in sich trägt. Außerdem sind E-Bike-Touren für mich eine tolle Vision, weil ich dadurch noch mehr Leute und auch abgeschiedene Orte erreichen könnte. Das wird auf jeden Fall kommen.

Fahren Sie gelegentlich zurück in die Schweiz?

Relativ selten, bisher meistens zweimal pro Jahr, zu Weihnachten und im Sommer. Ich merke aber, dass ich meine Eltern wieder öfter sehen möchte, denn die Zeit läuft für alle. Außer meinen Eltern und Freunden vermisse ich allerdings nicht viel aus der Schweiz. Obwohl ich sehr dankbar dafür bin, dass ich dort geboren wurde, habe ich mich gelangweilt. Alles ist so gut, so perfekt und berechenbar. Ich wusste, dass ich morgen eine Arbeit haben und dass mich der Zug auf die Minute genau dorthin bringen würde. Das ist natürlich super, aber ich habe das Leben zu wenig gespürt. Hier in Albanien dagegen spüre ich das Leben sehr stark und ich habe in den fünf Jahren sehr viel gelernt, zum Beispiel darüber, wie wichtig Familie ist. Der Respekt von Kindern gegenüber ihren Eltern ist hier das Wichtigste. Unsere Eltern haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind und wenn sie alt werden, dann ist es wichtig und schön, dass wir auch für sie da sind und Zeit mit ihnen verbringen.

 

 

“Hier spüre ich das Leben”

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